Wenn das Knie streikt
In Deutschland reißt rein statistisch etwa alle sechseinhalb Minuten ein Kreuzband. Es ist eine der häufigsten Knieverletzungen beim Sport.
Ein Fußballspieler stoppt aus vollem Lauf, vollzieht einen
abrupten Richtungswechsel. bei dem sich das rechte Knie stark verdreht und
schon ist es passiert: ein deutliches Knackgeräusch. das an ein reißendes Seil
erinnert und ein heftiger Schmerz signalisieren. dass das vordere Kreuzband der Belastung nicht mehr standgehalten hat und teilweise oder sogar vollständig gerissen ist.
Ein Riss des vorderen Kreuzbands. Mediziner sprechen auch von einer Kreuzbandruptur, ist die häufigste Bandverletzung des Kniegelenks. In Deutschland ereignen sich jedes Jahr über 100 0000 Knieverletzungen mit Kreuzbandriss.
Besonders gefährdet: Skiläufer und Fußballer
Besonders häufig treten solche Verletzung bei Sportarten mit schnellen Richtungswechseln auf. insbesondere wenn der Fuß fixiert ist, wie etwa beim Skifahren oder Fußballspielen mit Stollenschuhen. Die Ursache kann auch ein Sturz auf das Knie sein. Mitunter reicht aber auch schon eine verunglückte Landung nach einem Sprung. Ebenfalls gefährdet ist das Knie bei Sportarten. bei denen schnelle Abbremsbewegungen üblich sind. wie Handball, Basketball, Hockey, Volleyball, Tennis oder Squash. Frauen sind häufiger betroffen als Männer.
Vorderes Kreuzband: Stabilisator und Fühler
Das vordere und das hintere Kreuzband sind die wichtigsten Bänder im Knie. Zusammen mit den Seitenbändern führen sie das Kniegelenk bei jeder Bewegung und sorgen dafür, dass wir unser Schienbein im Kniegelenk nicht überstrecken und unseren Unterschenkel nicht nach innen überdrehen.
Dabei müssen sie enorme Belastungen aushalten. Ein gesundes vorderes Kreuzband hat eine Reißfestigkeit von ungefähr 220 Kilogramm und besteht aus einer Vielzahl kleinerer Faserbündel. Da der Durchmesser der Kreuzbänder bei Frauen geringer ist. sind sie stärker gefährdet als Männer.
Rund 70 Prozent der ernst haften Knieverletzungen betreffen das vordere der beiden Bänder. Diese sitzen zentral zwischen den Gelenkflächen von Schienbein und Oberschenkelknochen und überkreuzen sich, wie der Name verrät.
Das vordere Kreuzband verläuft leicht schräg von der Vorderseite des Schienbeinkopfes nach oben zum Oberschenkelknochen. Das hintere. kräftigere Kreuzband dagegen ist zwischen dem hinteren Teil des Schienbeinkopfes und dem Oberschenkelknochen befestigt.
Was viele Menschen jedoch nicht wissen: Das Kreuzband hat noch eine weitere Funktion, nämlich die eines Messfühlers. Denn ein gesundes Kreuzband enthält eine Vielzahl an Sensoren, die Informationen über die Kniegelenksstellung aufnehmen.
Noch bevor wir eine kritische Verschiebung im Kniegelenk bewusst wahrnehmen, hat das Kreuzband den gefährlichen Zustand bereits registriert und über eine Nervenverbindung an das Rückenmark gemeldet. Ober einen Reflexkreis werden daraufhin die umliegende Schutz- und Stützmuskulatur aktiviert, um gegenzusteuern. Dies macht den Verlust des Kreuzbandes doppelt schlimm. Fehlt dieser Messfühler, reagieren die Muskeln meist zu spät.
Reißt das vordere Kreuzband, wird das Knie folglich instabil. Der Betroffene hat das Gefühl. dass sich der Oberschenkel gegen den Unterschenkel verschiebt. man spricht dann vom Schubladenphänomen. Als Folge kommt es zu einer ausgeprägten Gangunsicherheit. Besonders unangenehm ist das spontane Wegknicken im Gelenk. Außerdem lässt sich das Knie nicht mehr vollständig beugen und strecken. Typisch für einen Kreuzbandriss sind starke Schmerzen im Innern des Knies sowie eine Schwellung des Gelenks. Häufig entwickelt sich auch ein schnell nachlaufender, blutiger Erguss im Gelenk.
Von den Betroffenen wird eine solche Knieverletzung nicht selten bagatellisiert und beispielsweise als Verstauchung eingestuft. Und manch einer kann tatsächlich schon bald nach dem Kreuzbandriss wieder Sport treiben. Die Diagnose wird dann mitunter erst nach vielen Jahren gestellt, wenn die Folgeschäden und die damit verbundenen Beschwer den den Gang zum Arzt unumgänglich machen. Denn irgend wann kommt es durch die an haltende Instabilität zu Folgeschäden am Meniskus und am Gelenkknorpel bis hin zum Gelenkverschleiß (Arthrose).
Wann sollte operiert werden?
Ob ein gerissenes Kreuzband operiert werden muss oder nicht, hängt stark vom Lebens alter und dem Lebensstil des Betroffenen ab. Professor Peter Diehl. Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie in München rät: “Die Kreuzbänder sind generell wichtige Stabilisatoren des Kniegelenks – ohne sie kommt es zu einer vermehrten Gleitbewegung des Kniegelenks. Die entstehenden Schwerkräfte können den Knorpelabrieb und den Ver schleiß des Meniskus beschleunigen. Aus diesem Grund empfehle ich bei sportlich aktiven oder noch jungen Patienten eine Operation.” Auch eine komplexere Verletzung. die zum Beispiel noch weitere Gelenkstrukturen betrifft, spricht für eine Operation.
Der Arzt operiert in der Regel durch kleine Hautschnitte, also mini malinvasiv über eine Gelenkspiegelung (Arthroskopie) und rekonstruiert. nachdem er zunächst eventuell vorhandene Begleitverletzungen zum Beispiel an Knorpel und Menisken versorgt hat, das kaputte Kreuzband mit körpereigenen Sehnen. Mediziner sprechend in diesem Fall von einer Kreuzbandplastik.
Vorteile dieser minimalinvasiven Operationstechnik gegenüber offenen Operationen seien kürzere Operationszeiten. ein geringeres Operationstrauma, eine relativ schmerzfreie Entnahme des Transplantats und unauffälligere Narben, so Professor Peter Diehl.
Am häufigsten wird das Kreuzband durch einen Teil der Kniescheibensehne (Patella sehne) oder durch die Semiten dinosus- und / oder Gracillis sehne ersetzt. “Dabei handelt es sich um zwei Sehnen aus Kniekehle, die sich selbst wieder regenerieren”. erläutert Diehl. Die Befestigung im Knochen erfolgt mit Schlaufen und Spezialschrauben, die sich nach dem Einheilen des Bandes auflösen. Der richtige Zeitpunkt der Operation ist für den Erfolg sehr wichtig. Viele Spezialisten warten lieber bis zu sechs Wochen nach der Verletzung, bevor sie ein neues Band einsetzen. Grund dafür ist. dass das Knie vollkommen entzündungsfrei und voll beweglich sein muss.
Erhalt durch Healing Response
Bei frisch gerissenen oder an gerissenen Kreuzbändern gibt es jedoch auch eine Möglichkeit, das gerissene Original Kreuzband zu erhalten. Diese Operationsmethode, die eben falls arthroskopisch durchgeführt wird, nennt man Healing Response.
Sie beruht darauf, dass der Kniechirurg die Selbstheilungskräfte des Kreuzbandes aktiviert. Da bei führt der Operateur über spezielle Bohrtechniken eine Blutung an mehreren Stellen am Kreuzbandstumpf herbei. damit es über eine Stammzellreaktion oder Vernarbung zu einer verstärkten Heilung kommt. Die gerissenen Fasern werden wieder an ihre anatomische Ansatzstelle im Oberschenkelbereich angelegt.
Bei diesem Verfahren werden keine körpereigenen Sehnen benötigt. Es hilft nicht nur dabei, die Heilung zu beschleunigen, sondern auch die noch vorhandenen Nerven im Kreuzband stumpf zu erhalten, welche später die Koordination beim Gehen unterstützen. Optimal wäre es. innerhalb der ersten beiden Wochen nach der Verletzung zu operieren. Zudem kann eine Healing Response nur dann durchgeführt wer den, wenn das Kreuzband direkt am Oberschenkel ausgerissen und der Kreuzbandstumpf gut erhalten ist.
“Ausunserer Erfahrung zeigt sich, je jünger ein Patient ist, desto höher ist die Chance, dass diese Methode zum Erfolg führt. Möglich ist der Eingriff im Rahmen von circa sechs Wochen nach der Verletzung”, so Diehl.
Später wird normaleiweise eine Healing Response nicht mehr durchgeführt und stattdessen eine Kreuzbandplastik vorgenommen. Noch erhaltene Kreuzbandfasern beeinflussen die Heilung in jedem Fall positiv.
In der Fachwelt herrscht bislang keine Einigkeit darüber, ob das vordere Kreuzband nach einem akuten Riss oder Teilriss und der Versorgung mit einem Healing Response an seinem Ursprung wieder stabil einwächst beziehungsweise vernarbt. Prof. Diehl ist von dieser Methode jedoch überzeugt: „Bei meinen Patienten ist die
Erfolgsquote sehr hoch. Die Operation ist mit einem wesentlich geringeren Trauma als bei einer Kreuzbandplastik verbunden. Der Betroffene ist deutlich schneller wieder arbeits- und sportfähig.
Konservative Therapie
Die konservative Therapie ohne OP besteht hauptsächlich in einer Ruhigstellung des betroffenen Kniegelenks. Dazu verordnet der Arzt zum Bei spiel eine bewegliche Schiene. eine sogenannte Orthese, oder Gehstützen. Meist dauert die Behandlung mehrere Wochen. Medikamente können die Symptome lindern. Der Arzt empfiehlt dazu schmerzlindernde, entzündungshemmende und abschwellende Arzneien.
Ganz wichtiges Therapieelement ist die anschließende Kräftigung der Beinmuskulatur. Sie verleiht dem Gelenk zusätzliche Stabilität. Denn nicht jedes Band wächst von alleine wieder zusammen. Seine Funktion müssen dann andere Bänder und Muskeln zumindest teilweise übernehmen.
Im Schnitt steht ein Profifußballer, der sich einen Kreuzbandriss zugezogen hat, nach 239 Tagen wieder auf dem Platz. So spielte Sami Khedira, der sich im November 2013 am Knie verletzt hatte, knapp sechs Monate später bei der WM in Brasilien.
Freizeitsportler brauchen dagegen deutlich länger, um sich von einer solchen Verletzung zu er holen. Ein Jahr ist die Faustregel. Denn nach dem Einsetzen des Implantats setzt unser Körper einen langsamen Umbauprozess in Gang, bei dem aus der Sehne ein Band wird. Untersuchungen haben gezeigt, dass dieser Prozess mindestens ein Jahr andauert. Aus diesem Grund raten Ärzte allen Freizeitsportlern, nach einem Kreuzbandersatz für mindestens zwölf Monate auf alle Risikosportarten zu verzichten.
Erschienen: Abendzeitung, München, am 9.7.2018